Der durch seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Studien über die engeren Fachkreise hinaus international bekannte und unter Studierenden auf Grund seiner Themen und seines Vortragsstils äußerst beliebte Historiker Karl Kaser ist am 11. April 2022 nach langer, schwerer Krankheit verstorben.
Karl Kaser stammt aus dem Markt Pischelsdorf, wo er 1954 geboren wurde. Sein Vater war der Malermeister im Ort. Weder Studium noch Universitätskarriere waren für jemanden, der damals in der oststeirischen Provinz aufwuchs, klar vorgezeichnete Ziele. Doch der junge Karl Kaser ging seinen Weg: von der Hauptschule über das Bundes-Oberstufenrealgymnasium 1974 auf die Karl-Franzens-Universität. Dort erkannte der damalige Ordinarius für Südosteuropäische Geschichte, Univ. Prof. Ferdo Hauptmann, alsbald Kasers Ambitionen und unterstützte dessen Wissbegier. 1980 promovierte er bei Hauptmann mit seiner Dissertation „Die serbischen politischen Gruppen, Bewegungen und Parteien und ihre Programme in Bosnien-Herzegowina 1903-1914“. Kurz danach begann Kaser mit der Arbeit an einem dreibändigen „Handbuch der Regierungen Südosteuropas 1833-1980“, an das sich seine Monografie „Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft in der kroatisch-slawonischen Militärgrenze“ anschloss, mit der er sich 1986 habilitierte. Mit dieser Studie erlangte Kaser erstmals internationale Anerkennung. Das Werk erfuhr später nicht nur eine Übersetzung ins Kroatische, sondern sogar ins Japanische. Es sollte die erste von mehr als zwanzig Monografien Karl Kasers sein, von denen einige auf Grund ihrer bahnbrechenden Relevanz in andere Sprachen – vornehmlich in jene des südöstlichen Europas – übersetzt werden sollten.
Sowohl während seiner Studienzeit als auch in seinen Anfangsjahren als Wissenschaftler blieb Karl Kaser seinen Wurzeln treu, etwa wenn ihn Freunde und Kollegen darum baten, ihm beim Ausmalen ihrer (Gemeinschafts-) Wohnungen zu helfen. Diese Fertigkeit brachte ihm zeitweilig bei anderen Gelegenheiten sogar einen Zuverdienst, da er noch keine feste Anstellung hatte; er musste sich vielmehr lange Zeit mit der prekären Position eines Universitätslektors begnügen, ehe er 1988 eine halbtägige Stelle als Vertragsassistent in der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte erhielt. Zu seinen Wurzeln kehrte er auch zurück, indem er gemeinsam mit Karl Stocker eine zweibändige Arbeit über das ländliche Leben in der heimatlichen Oststeiermark verfasste und damit auch als Experte für eine regionale Alltags- und Sozialgeschichte bekannt wurde. Dies brachte ihn in Kontakt mit seinem nach Ferdo Hauptmann zweiten Mentor, dem Wiener Historiker Michael Mitterauer. Von Mitterauer übernahm er auch das Konzept der Historischen Anthropologie, das Kaser auf spezifische Weise auf den Balkan ausdehnen sollte. Zuvor aber schrieb er noch ein bis heute gültiges Lehrbuch zur Südosteuropäischen Geschichte und Geschichtswissenschaft, in dessen zweite Auflage im Jahr 2002 er auch die Historische Anthropologie integrierte. Anfang der 1990er Jahre ging Kaser auch eine etwa zwei Jahrzehnte dauernde Kooperation mit dem US-amerikanischen Kulturanthropologien Joel M. Halpern ein, dessen auf den Balkan konzentrierte Forschungen von Kaser und dem sich langsam um ihn bildenden Kern seiner Schüler (Siegfried Gruber, Hannes Grandits, Christian Promitzer, Robert Pichler, und einige Jahre später auch Ulf Brunnbauer) fortgeführt wurden. Das erste Buch aber, das zu Kasers fächerübergreifendem Renommee beitragen sollte, war „Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats“ aus dem Jahre 1992. Etwas später erschien auch der Sammelband „Albanien, Stammesleben zwischen Tradition und Moderne“, das auf eine im gebirgigen Norden des Landes durchgeführte Feldforschung gemeinsam mit Studierenden und seinem langjährigen Freund Helmut Eberhard zurückging.
Es war daher nur folgerichtig, dass Karl Kaser 1996 den Ruf auf den Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte erhielt. Mit seinem Blick auf die Gesamtregion Südosteuropas stand er in der Tradition seines ersten, inzwischen verstorbenen Mentors Hauptmann, jedoch verkörperte Kasers neue Ausrichtung auf die Historische Anthropologie auch eine strategische Weichenstellung für die Zukunft, deren erste Ergebnisse 2003 in einem Sammelband „Historische Anthropologie im südöstlichen Europa: eine Einführung“ publiziert wurden. Darüber hinaus führte Karl Kaser die von Ferdo Hauptmann übernommene Buchreihe „Zur Kunde Südosteuropas“ im Böhlau-Verlag weiter und begründete auch die überwiegend englischsprachige Reihe „Studies on South East Europe“, die im LIT-Verlag erscheint.
Innerhalb des Forschungsstranges der Historischen Anthropologie konzentrierte sich Kaser zunächst auf die Rolle von Familie und Verwandtschaft und auf die Frage, wie Systeme von Herrschaft und Macht in Südost- und Osteuropa mit Erbsystemen verbunden waren. Um grundlegendere Antworten auf diese Themen zu erhalten, war sich Kaser jedoch alsbald bewusst, dass er diese nicht nur in den engeren Grenzen des Balkans und Südosteuropas zu suchen hatte, sondern Vergleiche zu benachbarten Regionen anstellen musste. Folgerichtig entwickelte er Schritt für Schritt eine geografische Ausweitung seiner Forschungsperspektive, die sich sukzessive auch auf andere Gebiete übertrug. So ist es im Rückblick nicht verwunderlich, dass Karl Kaser sofort bereit war, die ihm unmittelbar nach der Wende zum 21. Jahrhundert angetragene Gestaltung und Edition der auf eine breitere Leserschaft ausgerichteten Themenbände der Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens zu übernehmen und, trotz mehrfacher Schwierigkeiten bei der Finanzierung, auch erfolgreich auszuführen. Parallel dazu begann sich Kaser auch mit der Türkei, dem Nahen Osten und der Schwarzmeer-Region zu befassen. Als Frucht dieser Bemühungen gelang es ihm, ein umfassendes, bis in den Kaukasus reichendes, länderübergreifendes EU-Projekt mit dem Titel „Knowledge Exchange and Academic Cultures in the Humanities: Europe and the Black Sea Region, late 18th – 21st Centuries“ einzuwerben, das er mit organisatorischer Unterstützung von Dominik Gutmeyr-Schnur seit 2017 mit Kooperationspartnern aus 11 Staaten in der Schwarzmeer-Region geleitet hat.
In Kasers Forschungsaktivitäten war die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen und Herrschaftssystemen ein immer wiederkehrendes Leitmotiv, zugleich aber begann er sich auch spezifischer mit Bildquellen auseinanderzusetzen, ein Forschungsinteresse, zu dessen Resultaten nicht nur mehrere Monografien und Sammelbänden zu zählen sind, sondern auch der gemeinsam mit Barbara Derler und Nataša Mišković betriebene Aufbau der Bild- und Fotodatenbank VASE (Visuelles Archiv Südöstliches Europa); dieses trägt nunmehr in entscheidendem Maße zum visuellen Erbe des Balkans bei. Doch selbst die unbewegliche Fotografie war für den unermüdlichen Forschergeist von Karl Kaser nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Erforschung von bewegten Bildern, und zwar von Spiel- und Dokumentarfilmen im östlichen und südöstlichen Europa. So ist es im thematischen Kontext auch nicht verwunderlich, dass sich seine zuletzt veröffentlichte Monografie mit „Femininities and Masculinities in the Digital Age“ befasste.
Karl Kaser war jedoch weit mehr als nur eine einzigartig innovative Persönlichkeit in der internationalen Wissenschaftslandschaft, die zudem dem Idealtypus eines Forschenden und Lehrenden am nächsten kam. Er war auch für andere ein Spurenleger: Er erläuterte der interessierten Öffentlichkeit neue Themengebiete und eröffnete diese auch für Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen. Inzwischen sind einige seiner Studierenden selbst (außerordentliche) Professoren an verschiedenen Universitäten geworden oder haben andere herausragende Positionen in Wissenschaft und Diplomatie übernommen (u.a. Ulf Brunnbauer, Hannes Grandits, Dominik Gutmeyr-Schnur, Gentiana Kera, Sabine Jesner, Elife Krasniqi, Tahir Latifi, Hubert Neuwirth, Enriketa Papa Pandelejmoni und Robert Pichler). Karl Kaser hat außerdem wesentlich am Aufbau des von mehreren Universitäten getragenen Joint-Degree-Studiums „Südosteuropäische Geschichte“ sowie an dem von David Florian Bieber geleiteten profilbildenden Bereich „Dimensionen der Europäisierung“ an der KFUG mitgewirkt. Auf Grund von Kasers Person war der Fachbereich für Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie zudem ein Anlaufpunkt und Kommunikationsort für Master-Studierende, Doktorand:innen, wie auch für zahlreiche bekannte Südosteuropa-Forscher:innen sowohl aus der Region als auch aus vielen anderen Ländern. Darunter sind insbesondere Karl Kasers Kontakte nach Bulgarien, namentlich zu Anelia Kasabova und Kristina Popova, hervorzuheben. Dies alles wäre nicht möglich gewesen ohne das immense Organisationstalent von Karl Kaser, das sich aus dem bisher Gesagten versteht, aber hier nur als Fußnote vermerkt werden kann. Auf Grund seiner vielfachen Aktivitäten, Forschungsbeiträge und Leistungen erhielt Kaser seitens mehrerer Universitäten die Ehrendoktorwürde zugesprochen und wurde heuer, wenige Wochen vor seinem Tod, von der Südosteuropa-Gesellschaft mit der Konstantin-Jireček-Medaille ausgezeichnet. Manch andere von Karl Kasers Verdiensten und Anregungen müssen hier ohnehin ausgespart bleiben, da seine umfangreichen wissenschaftlichen Aktivitäten ansonsten den Rahmen eines knapp bemessenen Nachrufs sprengen würden.
Karl Kasers Ableben reißt eine Lücke in die internationale Forschungslandschaft und in die Universitätslehre, er hat aber auch dafür gesorgt, dass viele seine Ideen, Ansätze und Methoden weiterleben und an verschiedenen Orten weiterbetrieben werden. Karl, Du wirst uns fehlen: als Freund, Kollege, Wissenschaftler und als Spurenleger.
Christian Promitzer