Von 9. bis 11. Juli 2025 fand die 4. Internationale Konferenz des Military Welfare History Network an der Universität Graz statt. An drei Tagen diskutierten mehr als 40 renommierte Historiker*innen aus verschiedensten europäischen Ländern sowie den USA, Kanada, Indien, Südafrika oder Australien über Fragen von Verletzlichkeit und Fürsorge im Kontext von Kriegen und kriegerischen Konflikten. Unter der Leitung von Heidrun Zettelbauer zeichneten der Arbeitsbereich Kultur- und Geschlechtergeschichte (Institut für Geschichte), das Institut für Soziologie, das Archiv für die Geschichte der Soziologie sowie das Heeresgeschichtlichen Museum für Konzept und Organisation verantwortlich.
Den Auftakt zur Tagung bildete zunächst Maren Lorenz (Bochum), die sich in ihrer Eröffnungskeynote mit Nachkriegsgesellschaften in der frühen Neuzeit befasste und in ihrem Vortrag eindrucksvoll daran erinnerte, dass Wohlfahrt und Fürsorge in Kriegszeiten weitgehend auf die Aufrechterhaltung und Sicherung militärischer Stärke ausgerichtet waren. Sie führte vor Augen, dass Gewalt in verschiedenen historischen Epochen und unterschiedlichen Räumen auf unterschiedliche Weise präsent war und diese Erkenntnis erweist sich insbesondere mit Blick auf gegenwärtige Perspektiven auf Kriege, Krisen und Konflikte und ihre gesamtgesellschaftlichen Folgen von Relevanz: zeitgenössische Perspektiven gehen häufig davon aus, dass Krieg und Gewalt eine „Abweichung vom Vertrauten“ und vom „Normalen“ darstellen und dass diese in Kriegszeiten außer Kraft gesetzt sind. Dabei – so verdeutlichte Lorenz – müsse die Präsenz, Nichtpräsenz oder teilweise Präsenz von Gewalt als historisch veränderbar angenommen werden. Und dies wiederum entfalte weitreichende Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftlich entwickelten Konzepte und Praktiken zur Linderung der Folgen von Krieg, Gewalt, Schmerz, Tod und Trauma.
Die zweite Keynote der Konferenz wurde von Ruth Nattermann (München/Leipzig) gehalten, die sich mit der modernen Geschichte des Humanitarismus aus einer frauen- und geschlechterhistorischen Perspektive befasste. Nattermann verdeutlichte erhellend, dass sich die Geschichte der Humanität nicht erzählen lässt, ohne jene Stimmen einzubeziehen, die in der Geschichtsschreibung lange Zeit marginalisiert wurden und erinnerte daran, dass diese Geschichte zugleich „von den Rändern her“ erzählt werden müsse. Dies zeigte sie exemplarisch in einem Fokus auf geografisch häufig marginalisierte historische Räume wie das Mediterraneum. Zugleich plädierte Nattermann dafür, bekannte historische Quellen einer kritischen Relektüre zu unterziehen, mit dem Ziel auch weibliche Akteurinnen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die humanitäre Projekte geprägt haben, und unreflektiert tradierte Narrative eines (männlich konnotierten) humanitären Heldentums kritisch zu dekonstruieren. Es gelte, die Grenzen zwischen Humanitarismus und Menschenrechten klar zu benennen, um Verwerfungen im Rahmen humanitärer Bemühungen – beispielsweise im Kontext faschistischer Funktionalisierungen humanitärer Hilfe – adäquat einzuordnen. Zugleich verdeutlichte Nattermann in zahlreichen Beispielen die Verflechtung von Humanitarismus, Feminismus und Internationalismus. Sie führte deutlich vor Augen, dass es sowohl in der geschichtswissenschaftlichen wie auch gegenwärtigen Diskussion unabdingbar ist, sich mit den langfristigen Auswirkungen von Krieg zu befassen und auch Wohlfahrts- und Fürsorgepraktiken in einer entsprechenden Längsschnittperspektive zu analysieren.
Im Verlauf der Tagung eröffneten die Teilnehmer*innen in verschiedenen Panels und einer Reihe herausragender Vorträge Einblicke in historische und gegenwärtige Aspekte der Kriegsfürsorge und der Kriegsfolgen in Zusammenhang mit den Themen Männlichkeit, Geschlecht, in Hinblick auf die emotionalen und sozialen Kosten von Kriegsfürsorge, Care-Arbeit, in Hinblick auf den Umgang mit Verletzlichkeit, damit verbundenen Neudefinitionen von Identitäten, Pflichten und sozialer Gerechtigkeit, Dis/Ability sowie den Grenzen der Gewalt und Humanität. An dieser Stelle seien nur drei Aspekte herausgegriffen, in denen Überschneidungen zwischen den höchst unterschiedlichen historischen Fallstudien sichtbar wurden.
In vielen Vorträgen und Podiumsdiskussionen der Konferenz wurde Kriegsfürsorge erstens als „verflochtene Geschichte“ diskutiert. Dabei wurden sehr unterschiedliche Ebenen angesprochen: Symbole, Normen/Werte, Diskurse, aber auch Institutionen und soziale Gruppen sowie individuelle Biografien und personale Identitäten sowie Mikro-, Meso- und Makroebenen in der Geschichte. Es wurde deutlich, wie wichtig es ist, diese Ebenen gemeinsam zu betrachten und zu untersuchen, wie Kriegsfürsorgepolitik auf all diesen verschiedenen Ebenen zusammenwirkt/e. So gilt es, breitere gesellschaftliche Kontexte oder kulturelle Bedeutungen zu thematisieren, Kriegsfürsorge nicht allein als Aufgabe der Militärbehörden zu diskutieren, sondern die Handlungsfähigkeit sehr unterschiedlicher Protagonist*innen in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise kann Kriegsfürsorge, Care-Arbeit oder humanitäre Hilfe in Kriegskontexten wie ein „Brennglas“ fungieren, um Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften generell historisch analysieren zu können.
Zweitens erfordert die historische Auseinandersetzung mit „Kriegsfürsorge“ einen intersektionalen Ansatz. Sie ist – wie viele Beiträge zeigten – untrennbar mit Klasse, Race, Alter, Geschlecht, Ethnizität, nationalen (oder nationalistischen) Bedeutungen oder transnationalen Ideen verbunden. Es gilt, diese Unterschiede angemessen zu berücksichtigen und herauszuarbeiten, welche Kategorien sozialer Unterschiede und welche Ungleichheiten in einer bestimmten historischen Situation eine Rolle spielen und in welcher Weise sie dies tun. Schließlich kann die historische und interdisziplinäre Untersuchung von Kriegsfürsorge drittens dazu beitragen soziale Strukturen und kulturelle Bedeutungen in Kriegsgesellschaften generell zu verstehen sowie Einblicke in eine Geschichte der Emotionen, der sinnlichen Wahrnehmungen und körperlichen Erfahrungen zu gewinnen.
All die genannten Aspekte erweisen sich nicht zuletzt mit Blick auf gegenwärtige Krisen, kriegerische Konflikte und Kriege als zentral. Ein solcherart reformulierter Blick in die Geschichte von Kriegen ermöglicht es jene Trennlinien zu überbrücken, die die Geschichtsforschung allzu oft als gegeben und separiert betrachtet oder in Gegensatzpaaren angeordnet hat: öffentlich/privat, militärisch/zivil, weiblich/männlich, Front/Heimatfront, Opfer/Täter*innen, Gewalt/Verletzlichkeit, Töten/Fürsorge etc. Diese Polarisierungen gilt es kritisch zu dekonstruieren und zu überwinden. Im Rahmen der Tagung wurde deutlich, dass eine Geschichte der Kriegsfürsorge auch im Hinblick auf Grenzüberschreitungen, Übergangszonen und fluide Identitäten weitergedacht werden muss und die genannten Begriffspaare und damit verbundene wissenschaftliche Konzepte selbst in ihrer historischen Dimension kontextualisiert werden müssen.
(Heidrun Zettelbauer)